#12 Der Morgen der ersten Chemo
- von Lisa
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- 08 Juni, 2020
Wie zwei Stunden vor der ersten Chemo alles schief geht und mir kurz meine Nerven abhandenkommen.
26.09.2019. Mein Wecker klingelt um halb sieben, damit ich spätestens um sieben Uhr aufstehe, doch ich bin längst wach. Ich liege auf meinem Bett in meiner WG und schaue gegen meine Zimmerdecke, versuche meine Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. Schon jetzt schlägt mein Herz so schnell, als hätte ich eine Kanne Espresso getrunken. Um viertel vor erlaube ich mir aufzustehen und gehe direkt ins Bad. Duschen soll ich noch nicht, denn erst vorgestern wurde mein Port unter die Haut operiert. Also muss kaltes Wasser ins Gesicht spritzen reichen, um wieder ein bisschen klar zu kommen.
Der Plan für heute steht: Aufstehen und fertig machen,
erledigt. Frühstücken und Snacks für in die Klink in meinen Rucksack packen,
erledigt. Meiner Familie schreiben, dass ich wach und bereit bin, dass bisher
alles okay ist, auch erledigt. Ich bekomme Herzen und Daumen hoch geschickt und
sehe noch einige weitere Nachrichten, die mir für heute die Daumen drücken.
Alle stehen hinter mir, alle denken an mich. Ich bin nicht allein. Und ich bin
stark. Ich werde das schaffen.
Gleich ist es acht Uhr. Dann soll ich bei der Chemoambulanz anrufen und sagen,
dass es mir gut geht und ich keine erhöhte Temperatur habe. Vermutlich bekomme
ich daraufhin eine Uhrzeit genannt, wann ich kommen kann. Sobald ich das weiß,
muss ich das Taxi bestellen, das mich zur Klinik bringen wird. Danach kann ich
meine Mama anrufen und mit ihr besprechen, wann sie zur Klinik kommen kann, um
mich abzuholen. Denn während der Chemo darf niemand bei mir sein. Die Räume sind
zu klein für Angehörige. Ohman. Aber es werden ja noch andere Frauen dort
sitzen. Ich werde nicht allein sein, alles wird gut.
Acht Uhr. Ich wähle die Nummer der Chemoambulanz und
natürlich komme ich nicht beim ersten Mal durch. Ich warte zwei Minuten und es
geht eine Krankenpflegerin dran, die schon jetzt klingt, als hätte sie keine
Lust mehr auf den restlichen Tag. Ich nenne meinen Namen, sage dass alles gut
ist und frage, wann ich kommen kann. "Am besten so schnell wie
möglich", lautet die Antwort "und sie können schon die
Akynzeo-Tablette nehmen". Huch?! Welche Tablette? Ich frage nach was sie
damit meint und bekomme auf sehr ruppige Art und Weise erklärt, dass das eine
der Tabletten ist, für die ich bei der Chemo-Besprechung ein Rezept bekommen
habe. Ob ich die noch nicht besorgt hätte?! Mein Puls rast in die Höhe.
"Doch", antworte ich, "aber die habe ich nicht bei mir. Die
Tabletten sind alle bei meinen Eltern Zuhause, weil ich da nach der Chemo
hinfahre. Ich wusste nicht, dass ich jetzt eine von den ganzen Tabletten
brauche." Mit dieser Aussage habe ich anscheinend in den Augen der
Krankenpflegerin am anderen Ende der Leitung den Weltuntergang herbeigeführt
und werde richtig zur Schnecke gemacht. Tränen steigen mir in die Augen und
meine sowieso schon sehr labile Tapferkeit droht zu verschwinden. Ich
entschuldige mich vielmals und frage, was ich denn nun tun soll. Sie fragt, wie
schnell die Tabletten bei mir sein können und ich weiß es nicht, jedoch
frühstens in eineinhalb Stunden. Ich müsste meine Mama fragen, wie schnell sie
losfahren kann. Genau das soll ich auch machen und mich, wenn ich alles geklärt
habe wieder melden. Sie legt auf.
WARUM?? Warum muss immer alles schief gehen? Tief durchatmen. Ruhe bewahren.
Erstmal Mama anrufen.
Sie, die ihren Tag auch geplant hat und natürlich genauso aufgeregt ist, lässt
alles stehen und liegen, packt meine Tabletten ein und wird so schnell wie
möglich losfahren und die 80km zu mir kommen. Ich habe Angst, dass sie einen
Unfall baut, weil sie so durch den Wind ist und bitte sie vorsichtig zu fahren.
Schon während des Gesprächs kann ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten und
sie laufen vereinzelt die Wangen hinunter.
Ich rufe direkt wieder in der Klinik an und sage, dass ich es vermutlich
schaffe um zehn Uhr in der Klinik zu sein, je nachdem wie der Verkehr ist. Die
gleiche unfreundliche Frau ist wieder am Telefon und meckert etwas rum. Ich
soll mich beeilen. Aufgelegt.
Der Damm bricht und ich heule richtig los. Als ich mich wieder beruhigt habe,
beschließe ich, dass ich das so nicht stehen lassen kann und rufe nochmal in
der Klinik an. Eine neue Krankenpflegerin kommt ans Telefon und merkt direkt,
dass ich mit den Nerven völlig am Ende bin. Ich könne mich beruhigen, das sei
alles gar nicht so dramatisch wie es sich jetzt gerade anfühlt und ändern
können wir es nicht mehr. Die Zeit, bis meine Mama da ist, soll ich nutzen, um
tief durchzuatmen und dann wird später trotz der Aufregung alles gut gehen. Ich
frage nochmal nach, welche Tablette ich später nehmen soll, denn das habe ich
bei der ganzen Aufregung wieder vergessen.
Meine Mutter ruft an, dass sie in ein paar Minuten bei mir
ist. Ich gehe schon vor die Tür und ihr ein bisschen entgegen. Mein Puls, den
ich bis gerade eben wieder einiger Maßen in den Griff bekommen hatte, steigt
stetig an. Ich sehe das Auto auf mich zufahren und mache mich bereit, um zügig
einzusteigen. Im Fußraum des Beifahrersitzes liegt die Tasche mit allen schon
vor Tagen besorgten Tabletten. Ich krame die richtige Verpackung heraus und schlucke
die erste Tablette im Rahmen der Chemotherapie, doch ich bin so aufgeregt, dass
mir das gar nicht so recht auffällt.