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#6  Zweite Operation und eine dicke Lüge

  • von Lisa
  • 17 Nov., 2019

Mai 2019 - Juli 2019. Das Ergebnis der Vakuumbiopsie, die Suche nach den Clips in meiner Brust, die zweite Operation, das Warten auf die neusten Ergebnisse und ein Anruf, der diese maßlos verharmlost.

In 35 Tagen bekomme ich die Diagnose Brustkrebs und mein Leben wird sich von einem auf den anderen Moment verändern. Wenn ich darüber nachdenke, sehe ich immer einen Berg vor meinen Augen. Seit Monaten versuche ich, irgendwie höher zu kommen, ihn irgendwie zu erklimmen. Ich habe schon alle möglichen Wege ausprobiert, aber ich komme einfach nicht wirklich voran. Als hätte ich tausende Steine im Rucksack, die mich immer wieder runter drücken. Ich bin kurz davor aufzugeben. Meine Energie ist fast aufgebraucht, lange kann ich das nicht mehr.

Was ich nicht ahne, ist, dass der Berg in fünf Wochen viel größer als gedacht und doppelt so steil wird. Auf einmal geht es nicht mehr darum, ihn einfach nur hochzuwandern, um einen schönen Ausblick zu haben. Auf einmal ist es das Wichtigste, nicht runterzufallen. Auf einmal geht es darum, zu überleben. Es ist kein Wanderausflug zum Vergnügen mehr. Den Gipfel zu erreichen bedeutet, dass ich nicht gestorben bin.
Der Berg wird der Kampf meines Lebens und als ich das realisiert habe, wurde der Rucksack voller Steine zum Raketenantrieb. Aufgeben gibts nicht. Keine Option. Auf einmal habe ich herausgefunden, wie ich den fucking Berg Meter für Meter bezwingen kann.

Aber nochmal zurückspulen. Heute habe ich zwei Termine. Den einen in der Radiologie, den anderen im Brustzentrum. Zuerst bekomme ich hoffentlich die Ergebnisse von der Vakuumbiopsie. In der Radiologie werden die eingesetzten Clips mit dem Ultraschallgerät gesucht und eine Mammographie gemacht. Im Brustzentrum besprechen wir dann mit meinem Arzt den Biopsiebefund zusammen mit den Bildern aus der Radiologie.
Für mich fühlt sich dieser Tag groß an. Heute Abend werde ich wissen, worauf ich seit über einem Jahr warte. Ich habe ein komisches Gefühl im Bauch. Dieser Tag wird zu viel für einen Tag sein.

Ich werde aufgerufen und soll mich schon mal ausziehen und auf die Liege legen. Die Ärztin, die ich nun schon viel zu gut kenne, kommt einige Minuten später durch die Tür. Sie ist anders als sonst. Ihre erste Frage nach der Begrüßung ist, ob ich schon irgendwas wüsste. Ich halte die Luft an und höre: "Es wurde wieder nichts gefunden." Mein Gehirn braucht lange, um das zu verstehen. Und was jetzt? Eine einzelne Träne läuft aus meinem Auge. Ich fühle mich leer. Ich liege halb nackt vor ihr und baue innerlich einfach ab. Bin auf einmal ganz weit weg.
Sie erzählt mir, dass mein Fall in einigen Besprechungen diskutiert und meine Bilder und Befunde von mehreren Ärzten angeschaut wurden. "Ich hatte noch nie eine Patientin wie sie, Frau Baumbach. Sie sind ein Rätsel."
Auch mir zeigt sie die Bilder. Man sieht, dass die Proben exakt an den auffälligen Stellen genommen wurden. Das ist völlig verrückt.

Wir suchen trotzdem nach den Clips in der Brust. Ich frage sie, wofür, wenn man doch wieder kein Befund und damit quasi keine Legitimation für eine Operation hat. Sie erzählt mir, dass sie das schon besprochen hätten und nichts anderes als eine OP übrig bleibt, um mir zu helfen. Details würde ich mit meinem Arzt dann später besprechen.
Ich gehe ziemlich frustriert aus der Besprechung raus. Und wütend. Wütend auf die Welt. Wütend auf die Ärzte, die ich doch eigentlich mag. Wie kann das alles sein? Womit habe ich das verdient? Ich verstehe es nicht.

Ein paar Stunden später sitze ich meinem Arzt gegenüber. Ich erzähle ihm, dass ich am liebsten meine Brüste einfach direkt abhaben will. Dann hätte dieser ewige Teufelskreis endlich ein Ende. Er beschmunzelt die Idee. Das sei keine Option. Ein viel zu radikaler Eingriff, wo man doch immernoch davon ausgehen kann, dass sich da gutartige Veränderungen hinter der blutigen Sekretion verbergen. Ich soll jetzt nicht aufgeben. Stattdessen wird mir eine andere Operation vorgeschlagen. Geplant ist, dass vor der OP die Ärztin aus der Radiologie jeweils einen Draht durch die Haut direkt am Rand der Brustwarze bis zu den Clips legt und fixiert. Dadurch kann mein Arzt bei der Operation an den Drähten entlang bis zu den Clips schneiden und dann um das Drahtende und den Clip herum, bzw. zwischen den Clips, Gewebe entnehmen. Dieses Gewebe wird dann wieder ins Labor geschickt und untersucht. Das entnommene Gewebe wird etwa 8cm lang und so dick wie ein Zeigefinger sein, aber man wird danach trotz allem keinen Unterschied zu vorher spüren, da meine Brüste groß sind. Juhu, dann kann man nur an den tausend Narben erkennen, dass da was nicht stimmt.

Gesagt getan. Zwei Wochen später ist die Operation. Es ist alles sehr gut gelaufen und ich muss nur drei Tage in der Klinik bleiben. 14 Tage nach der OP habe ich den Termin zur Besprechung der Ergebnisse. 14 Tage, das schaffe ich.

Ein paar Stunden vor dem Termin verpasse ich einen Anruf aus der Klinik. Ich werde panisch und rufe zurück. Ich weiß die Worte noch zu hundert Prozent: "Hallo Frau Baumbach, gut, dass sie mich noch zurückgerufen haben. Das Labor ist noch nicht fertig. Es müssen noch ein paar Untersuchungen gemacht werden. Aber ich soll ihnen vom Doktor ausrichten, dass es nichts Schlimmes ist. Wir melden uns bei Ihnen, wenn es soweit ist. Wahrscheinlich innerhalb der nächsten Woche."

N i c h t s   S c h l i m m e s.

Damit wurde mir die vermutlich größte Lüge meines Lebens aufgetischt. Danke dafür.



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