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#9  Das mit dem Boden unter den Füßen…

  • von Lisa
  • 14 Jan., 2020

September 2019. Die Aufklärung über den Gen-Test und die Andeutung, dass ich eine Chemotherapie brauche.

Hier müsste jetzt eigentlich stehen, wie es ist, ohne Brüste aufzuwachen. Wie es ist, auf der Intensivstation zu liegen und sich so schwach wie noch nie zu fühlen. Wie es ist, eine Woche lang im Krankenhaus zu sein. Wie es ist, zwei 15 Zentimeter lange Narben zu haben, wo bei den meisten anderen Brüste sind. Wie es ist, zu wissen, dass man niemals ein Kind stillen kann. Wie es ist, jedem zu erzählen warum ich jetzt flach bin und wie es mir geht.

Aber ich habe keinen Bock. Ich muss diesen Teil erstmal überspringen. Ich muss erst herausfinden, wie ich es schaffe, in Worte zu fassen, wie es mir dabei geht, wenn ich über die Zeit zwischen Operation und endgültiger Diagnose und der Nachricht, dass ich eine Chemotherapie brauche, nachdenke. Dafür brauche ich einfach noch Zeit. Also nehme ich sie mir auch. Darüber schreiben will ich aber auf jeden Fall. Wenn ich es geschafft habe, sage ich Bescheid.

Ich springe jetzt zu dem Moment, in dem mein Kampfgeist zum ersten Mal einen Dämpfer verpasst bekommt.

Als ich nach sieben Tagen im Krankenhaus entlassen wurde, hat man mir gesagt, dass es etwa zwei Wochen dauert, bis die genauen Ergebnisse aus dem Labor bekannt sind. Das komplette entnommene Gewebe, also beide Brüste mit Milchgängen, Warzen und Drüsen, wird ganz genau untersucht. Von den Wächterlymphknoten, die mir aus der linken Achselhöhle entnommen wurden, wusste man schon im Laufe der Operation, dass sie gesund und frei von Krebszellen sind und somit der Krebs noch nicht gestreut hat. Ein sehr sehr gutes Zeichen, das uns alle hoffen und vermuten lässt, dass ich weder eine Chemotherapie noch Bestrahlung brauche.
Dieser Gedanke gibt mir unendlich viel Kraft. Ich brauche keine Chemo. Ich brauche keine Chemo. Ich brauche keine Chemo. Ich bin mir da so so sicher. Mein Bauchgefühl sagt es mir auch. Alle Zeichen sprechen dafür.
Und dann BÄM. 03.09.2019. 17 Tage nach der OP. Ich habe einen Termin im Brustzentrum mit einer Ärztin, die ich bisher noch nicht kannte. Sie ist hier die Spezialisten für Gen-Forschung (ich habe das jetzt einfach mal so genannt, mit Sicherheit gibt es dafür einen viel professionelleren Begriff). Es gibt nämlich gewisse Gene, die wenn sie einen Defekt haben, dafür verantwortlich sein können, dass man Brustkrebs bekommt. Am bekanntesten sind BRCA1 und BRCA2, es gibt aber noch einige mehr. Viele sind auch noch gar nicht erforscht. Bei mir vermutet man, dass ich einen solchen Gendefekt habe, da es sonst noch verrückter wäre, dass sich mit 20 Jahren schon diese Brustkrebszellen gebildet haben. Darum bin ich heute hier. Die Ärztin erklärt meiner Mama und mir sehr viel und bespricht mit uns, welche Auswirkungen so ein vererbbarer Gendefekt auf mich und meine Familie haben könnte. Am Ende willige ich ein, dass mein Blut untersucht wird.
Ich gehe irgendwie davon aus, dass ich heute auch die Ergebnisse der Operation erfahre und hake deswegen bei der Ärztin nach. Sie wirkt überrascht und fragt ob ich denn noch nichts wüsste. Meine Mutter und ich verneinen und sagen, dass bisher noch kein Anruf kam und ich heute zum ersten Mal wieder hier sei. Ich kann sehen, dass sie sich sträubt meinem mich eigentlich behandeln Arzt die Nachricht vorwegzunehmen und fragt mich, was mir bisher gesagt wurde bzw. was mein letzter Stand sei. Ich erzähle ihr, dass wir hoffen und mein Arzt nach der Operation gesagt hat, dass es wahrscheinlich ist, dass ich keine Chemo oder Bestrahlung brauche. Sie presst die Lippen aufeinander, blättert noch einmal in meiner Akte herum und sagt: "Also eine Bestrahlung brauchen sie nicht." In diesem Moment verstehe ich, was andere Menschen damit meinen, dass ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Innerlich zerbreche ich genau jetzt. Ich habe doch mal von dem Berg erzählt, den ich Monate lang vor meinem inneren Auge hatte. Bis eben dachte ich, mit der Operation hätte ich den Gipfel erreicht und könnte jetzt auf der anderen Seite wieder herunter gehen. Diese Nachricht schupst mich wieder komplett zurück zum Fuß des Berges. Meine Mama und ich sind auf einmal völlig neben der Spur. Ich brauche eine Chemotherapie. Wir sprechen noch kurz mit der Ärztin, sie sagt nicht viel mehr, und verabschieden uns. Der Satz "Sie sind noch jung und können noch viele Jahre vor sich haben, an ihrer Stelle würde ich so viel es geht für meine Gesundheit machen." bleibt hängen. Draußen im Flur vor der Anmeldung treffen wir zufällig auf meinen Arzt. Er sieht mir sofort an, dass etwas nicht stimmt. Er bittet um Verständnis, dass er heute keine Zeit mehr hat, die Diagnose mit mir zu Besprechen und fragt ob wir das auf Übermorgen schieben können. Ich sage einfach Ok. Ich muss hier so schnell wie möglich raus.
Draußen vor dem Gebäude bekomme ich sowas wie eine Panikattacke und weine im Arm meiner Mama bis nichts mehr rauskommt. Da ist er endlich: der von allen schon lang erwartete Zusammenbruch. Mein Leben gerät gerade völlig außer Kontrolle. Ich habe das so nicht geplant. Ich habe doch so viele Konzerttickets für die nächsten Monate gekauft. Ich habe doch Urlaube geplant. Ich habe doch gerade erst eine Arbeit gefunden, die mir wirklich Spaß macht und mich erfüllt. Ich bin doch gerade endlich glücklich. WARUM MACHST DU JETZT ALLES EINFACH KAPUTT DU SCHEISS VERFICKTES KREBSARSCHLOCH!!!??


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